Kurz entsetzt und schon vergessen
Zwischen neuer Corona-Fallzahlen, immer willkürlicher werdenden Polizeikontrollen und sinnvoller Selbstisolation sollten wir innehalten und gedenken: Vor genau sechs Monaten verübte ein überzeugter Faschist einen fürchterlichen antisemitischen Terroranschlag auf eine Synagoge in Halle und tötete dabei zwei Menschen.
Der Nazi Stephan Balliet versuchte mit selbstgebauten Schusswaffen und Sprengsätzen in die Synagoge einzudringen, nachdem er zuvor im Internet seine faschistische Ideologie als Tatmotiv darlegte und eine Live-Übertragung seines Anschlags startete. Als es ihm nicht gelang, die Tür der Synagoge zu öffnen, erschoss er eine Passantin, die ihn ansprach und einen Kunden eines Dönerladens, nachdem er weitere Sprengsätze auf den Imbiss geworfen hatte. Auf der Flucht verletzte er noch zwei weitere Personen, bevor er festgenommen wurde.
Während weiterhin die Covid-19-Pandemie die Berichterstattung dominiert, denkt wohl kaum ein Mensch heute an diesen brutalen Terroranschlag. Verwunderlich ist dies jedoch kaum, wenn man bedenkt, wie schnell auch schon die viel weniger weit zurückliegenden rassistischen Morde von Hanau aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwanden.
Trotz der derzeitigen Corona-Ausnahme-Situation scheint dies dem typischen Umgang mit rechtem Terror in Deutschland zu entsprechen: ein kurzes, halb ehrliches, halb geheucheltes Entsetzen und dann ist rechte Gewalt ebenso schnell wieder vergessen, verdrängt und allzu häufig auch aktiv verschleiert, siehe NSU-Komplex (und auch im Lübcke-Mordfall wurden schon Akten geschreddert). Verharmlosung, Unterschätzung und der völlig abwegige Versuch einer Relativierung rechten Terrors durch Verweis auf „linksextreme Straftaten“ sind ebenso charakteristisch.
Zentral ist es, das gesellschaftliche Klima zu betrachten, in dem all dies stattfindet. Der Täter von Halle hat sich im Internet in einer verschwörungstheoretischen Blase isoliert und so zu einer abstrusen antisemitischen Weltanschauung gefunden. Doch Vorurteile und Feindseligkeit gegenüber jüdischen Mitmenschen sind kein Einzelfall, sondern ganz im Gegenteil hierzulande weit verbreitet: Laut einer aktuellen Umfrage stimmt jeder vierte Deutsche antisemitischen Aussagen zu (SZ, 23.10.2019). Das manifestiert sich auch in den steigenden Zahlen antisemitischer Straftaten, 2019 waren es 2032 Delikte. Auch in Freiburg gab es im letzten Jahr judenfeindliche Übergriffe, in einem Fitnessstudio gegen einen Kippa-tragenden Menschen (dem Geschehen wohnten mehrere Leute untätig bei) und vor der Synagoge gegen die Vorsitzende der Israelitischen Gemeinde (während mehrere Passanten ohne einzugreifen vorbei liefen). Ganz aktuell verbreiten sich die krudesten antisemitischen Verschwörungstheorien bezüglich der Corona-Pandemie.
Der gesamtgesellschaftliche Rechtsruck und die Verschiebung der Diskurse schaffen eine Atmosphäre, in der sich gewaltbreite Nazis weit bis ins bürgerliche Milieu hinein bestätigt und ermutigt fühlen: Im vergangenen Jahr gab es laut Bundesinnenministerium fast 1000 rechte Gewalttaten (versuchte und vollzogene). Das sind 2,7 Gewalttaten pro Tag, die von Nazis verübt werden. Insgesamt gab es 22.337 Delikte mit rechtem Hintergrund, die Dunkelziffer liegt vermutlich höher. Allgemein gibt es eine lange Tradition rechter Gewalt in Deutschland: Innerhalb der letzten 30 Jahre haben Faschisten in Deutschland 208 Menschen umgebracht (Amadeu Antonio Stiftung, Zählung 1990-Februar 2020), also jeweils 7 von Nazis getötete Menschen pro Jahr und das die letzten 30 Jahre lang.
Fest steht demnach ohne Zweifel: rechte Gewalt ist alltäglich und allgegenwärtig, sie gehört zum Normalzustand in diesem Land. Es verwundert also kaum, dass nach den erschreckend häufigen Meldungen zu rechten Netzwerken in Sicherheitsbehörden, zu Gewaltverbrechen und anderen Naziaktivitäten mit kurzem Entsetzen und/oder fast schon ritualisierter Trauerbekundung möglichst schnell zurück zur Normalität geschritten wird. Rassistische und nationalistische Diskurse werden weiterhin geführt, Antifaschismus kriminalisiert und die neofaschistische AfD und ihre Propaganda normalisiert.
2019 war ein Jahr der exzessiven faschistischen Gewalt, es reiht sich ein in eine kontinuierliche Geschichte rechten Terrors in Deutschland und so geht es schrecklicherweise auch in diesem Jahr weiter: Vor zwei Monaten ermordete ein Nazi in Hanau 9 Menschen, weil sie nicht in sein verkorkstes Weltbild passten: Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nessar El Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu und Vili Viorel Păun.
Die jetzige Situation in Zeiten der Pandemie darf keine Ausrede sein, dieses (und auch alle weiteren) faschistisch motivierten Verbrechen zu vergessen! Unsere Solidarität gilt allen Betroffenen rechter Gewalt und deren Angehörigen. Stellen wir uns also geschlossen an ihre Seite und halten zusammen!
Wichtig ist zu begreifen: Es reicht eben nicht, sich in einem kurzen Aufschrei zu empören und dann wieder in den Normalbetrieb zurückzukehren. Lasst uns stattdessen Konsequenzen ziehen und Widerstand leisten:
Wir müssen neofaschistische Diskurse und Akteure als solche benennen und ihnen entschlossen in allen Situationen und auf allen Ebenen entgegentreten! Gemeinsam und solidarisch den Kampf gegen Faschismus in die Offensive bringen!
Antifaschismus ist Selbstverteidigung!